Die WELT auf unserem Teller
Kaum ein Gericht ist wirklich „nur“ national – fast immer steckt eine Geschichte von Austausch, Anpassung und neuen Einflüssen dahinter. Mein Text zeigt, wie Essen Grenzen überschreitet, Kulturen verbindet und warum unsere Lieblingsgerichte oft mehr mit Migration zu tun haben, als wir denken.
Wie Migration und Globalisierung unser Essen formen
Disclaimer: Dieser Text ist recht lang geworden, wenn du ihn lieber hören als lesen möchtest, habe ich eine Audio-Version aufgenommen.
Der große Kinosaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, selbst jetzt um 10 Uhr morgens. Niemand kaut hier Popcorn. Es ist Berlinale. Das Licht geht aus, Stille kehrt ein. “Letters from Wolfstreet” ein Dokumentarfilm des indischen Filmemachers Arjun Talwar, beginnt. Wir sehen Straßenszenen in Warschau, Menschen, die ihrem Alltag nachgehen. Talwar, ein Migrant aus Indien, dokumentiert seine Nachbarschaft, zeigt Begegnungen, Gespräche, den Versuch, in der Fremde heimisch zu werden. Dann diese Szene: Eine Gruppe von Menschen beissen an einem Imbiss alle in überbackene Baguettes. Neben mir seufzt ein Mann, tief und unverkennbar voller Sehnsucht. „Ich bin Pole“, flüstert er mir fast entschuldigend zu. „Das ist so lecker.“
Essen ist nie nur Nahrung. Es ist Identität, Geschichte und ein Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen. Kaum ein Gericht bleibt für immer, alles ist im Fluss. Der Döner, heute untrennbar mit Berlin verbunden, wurde von türkischen Migranten für den deutschen Markt weiter entwickelt. Die Currywurst, so urdeutsch sie erscheint, wäre ohne britisches Curry-Pulver nicht denkbar. Selbst das, was wir als typisch deutsch begreifen, Kartoffeln, unseren heißgeliebten Spargel oder die sonntäglichen grünen Bohnen, kamen einst aus anderen Teilen der Welt.
Der globale Speiseplan wird seit jeher auch von Migration geprägt. Berlin wäre kulinarisch nicht dasselbe ohne die viet-deutsche Community. Die ersten kamen als Vertragsarbeiter:innen in die DDR. Ab den 1950er Jahren wurden sie angeworben, um den Arbeitskräftemangel in der Industrie zu kompensieren. Ihr Leben war geprägt von strengen Vorschriften. Familiengründung war untersagt, Schwangerschaft bedeutete die Rückkehr ins Heimatland. Nach dem Mauerfall 1990 änderte sich das. Viele blieben, gründeten Familien, bauten Geschäfte auf. Heute ist Berlin eine der größten vietnamesischen Communities Europas, und das prägt das Stadtbild. Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, sieht es. Die Pho- und Bánh-Mì-Läden, die unzähligen vietnamesischen Restaurants – alle 100 Meter eine neue Adresse – und dann das Dong Xuan Center in Lichtenberg. Und es begann nicht mit hippen Foodtrends, sondern mit Menschen, die sich in einer neuen Heimat ein Leben aufbauten. Durch Essen, durch Gemeinschaft, durch Traditionen, die nun Teil Berlins sind.
In Düsseldorf entstand parallel dazu ein „Little Tokyo“. Die Geschichte der japanischen Gemeinschaft in der Stadt begann ebenfalls in den 1950er Jahren, als japanische Unternehmen wie Mitsubishi und Hitachi Niederlassungen in Deutschland gründen wollten. Düsseldorf, mit seiner zentralen Lage in Westdeutschland, guter Infrastruktur und Nähe zum Industriestandort Ruhrgebiet, wurde zum bevorzugten Standort. In den 1970er und 1980er Jahren wuchs die japanische Gemeinschaft weiter, als immer mehr Unternehmen ihre europäischen Hauptsitze in die Stadt verlegten. Heute leben rund 8.000 Japaner:innen in Düsseldorf und bilden damit die größte japanische Gemeinschaft in Europa.
Mit ihnen kamen nicht nur Geschäftsleute, sondern auch die Kultur und vor allem ihre Küche. In der Immermannstraße und ihren Nebenstraßen entstanden japanische Restaurants, Supermärkte und Geschäfte. “Little Tokyo” wurde zu einem Ort, an dem sich japanische Expats wie zu Hause fühlen, aber auch Deutsche die Vielfalt der japanischen Kultur entdecken konnten. Von Sushi über Ramen bis hin zu Izakayas (japanische Kneipen), man findet hier alles in bester Qualität. Die kulinarische Landschaft Düsseldorfs wurde durch diese Einflüsse maßgeblich bereichert.
Küchen, Rezepte, Gerichte sind nie statisch, sie sind ständig im Wandel. Jede Küche ist das Produkt von Einflüssen, Handel und Anpassung. Das, was wir heute als traditionell betrachten, war meist selbst einmal eine Neuerung. Ich finde, wer an alten Vorstellungen festhält, verpasst die Chance, neue Perspektiven zu entdecken. Hätten unsere Vorfahren einst die neue Kartoffel oder den Spargel verschmäht, auf was würden wir uns dann im Frühling kulinarisch so freuen? Vielleicht also sollten wir öfter fragen, woher ein Gericht wirklich kommt und welche Wege es genommen hat, statt herumzumeckern, wenn es neu interpretiert wird. Oder gar zu fragen: Wem gehört es denn eigentlich? Wer darf es kochen? Viel spannender finde ich, wenn man seine Geschichte erzählt.
Dafür reisen wir “back in time” nach Amerika. Zuerst nach Süd-, dann nach Nordamerika und entdecken dort die peruanisch-chinesische Küche, die aus der Einwanderung chinesischer Arbeiter nach Südamerika entstand. Im 19. Jahrhundert kamen Tausende chinesische Vertragsarbeiter nach Peru, angezogen durch den Bedarf an Arbeitskräften in der Landwirtschaft und im Bergbau. Sie brachten nicht nur ihre Kochtechniken mit, sondern auch ihre Geschmacksprofile. Doch in der neuen Umgebung fehlten oft vertraute Zutaten. Und so begannen sie, lokale Zutaten wie Ají Amarillo (gelbe Chilischoten), Mais und Kartoffeln in ihre Gerichte zu integrieren. Aus dieser kreativen Anpassung entstand die Chifa-Küche, eine einzigartige Fusion aus chinesischen und peruanischen Traditionen.
Doch deren Geschichte endet nicht in Südamerika. Viele dieser chinesisch-stämmigen Peruaner:innen migrierten später nach New York, wo sie ihre Küche erneut transformierten. In den Straßen von Queens und Manhattan etablierte sich Chifa als etwas Eigenständiges. Eine Küche, die weder rein chinesisch noch rein peruanisch war, sondern eine neue Identität schuf. Und sehr beliebt wurde. Heute hat diese Küche längst ihren Platz im sprichwörtlichen Melting Pot New Yorks etabliert.
Wir reisen weiter, nach Thailand. Pad Thai ist das Thailändische Nationalgericht, wer die Küche mag, wird es sicherlich kennen. Allerdings hat es eine Geschichte, die kaum einer kennt. Denn das Nudelgericht wurde in den 1930er Jahren unter der Regierung des damaligen Premierministers Phibunsongkhram zum Nationalgericht Thailands. Er wollte einheitliche nationale Symbole schaffen und förderte das Gericht als Teil einer Kampagne zur Modernisierung des Landes, das sich von Siam zu Thailand umbenannte und westlichen Einflüssen öffnete. Pad Thai sollte ein einfaches, nahrhaftes Gericht sein, das aus thailändischen Zutaten zubereitet wird und für alle Bevölkerungsschichten zugänglich ist. Und vor allem bei westlichen Besuchern Zuspruch finden sollte. Seine Ursprünge hat das Gericht allerdings in China. Es war eine beliebte Speise bei Wanderarbeitern und wurde erst durch deren Migration auch bei Thailänder:innen beliebt.
Wir reisen weiter östlich, nach Japan. Denn dort wurde durch eine Marketingmaßname eine Zutat ins Land gebracht, die für uns aus heutiger Sicht völlig “authentisch” ist. Es geht um rohen Lachs als Zutat für Sushi. In Japan wurde Lachs bis in die 1980er Jahre nicht als Sushi-Fisch verwendet, sondern hauptsächlich gebraten oder gedämpft serviert. Bis norwegische Exporteure ihn als neue Zutat etablierten. Denn in Norwegen hatte man sehr erfolgreich Lachs kultiviert. Die Erträge waren so reichhaltig, dass man sich dringend neue Absatzmärkte suchen musste. Ein Marketingteam machte sich an die Arbeit, investierte viel und konnte Japan als neuen Markt gewinnen. Heute erscheint uns und auch Japaner:innen Lachs-Sushi so selbstverständlich, dass kaum jemand seine europäische Herkunft hinterfragt.
Ein letztes mal reisen wir weiter, dieses Mal Korea. Kimchi gilt heute als das Aushängeschild der koreanischen Küche. Es ist würzig, feurig, tiefrot. Doch das war nicht immer so. Ursprünglich war Kimchi ein milder, fermentierter Kohl ohne jegliche Schärfe. Erst als portugiesische Händler im 16. Jahrhundert die Chili aus Südamerika nach Asien brachten, begann sich das heutige Bild von Kimchi zu formen. Vor dieser Zeit waren die fermentierten Gemüsevarianten in Korea eher weißlich, gewürzt mit Salz, Ingwer und Knoblauch. Die Einführung der Chili veränderte das Rezept grundlegend und machte Kimchi zu dem, was es heute ist. Ein Gericht, das scheinbar urkoreanisch ist, aber in Wahrheit von globalen Einflüssen geprägt wurde.
Globalisierung hat also die kulinarische Vielfalt bereichert, aber sie hat auch Schattenseiten. Während manche Rezepte sich anpassen und weiterentwickeln, werden sie anderenorts von industriell gefertigten Massenprodukten verdrängt. In Mexiko hat der Import von stark verarbeitetem Fast Food dazu beigetragen, dass das Land eine der höchsten Fettleibigkeitsraten der Welt hat. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus, rund eine Milliarde Menschen auf der Welt sind übergewichtig. Die westliche Lebensmittelindustrie schafft Abhängigkeiten, indem sie lokale Märkte mit günstigen, nährstoffarmen Produkten überschwemmt. Zum einen auf Kosten traditioneller Esskulturen, zum anderen basiert diese Lebensmittelproduktion oft auf ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Avocados aus Mexiko, Quinoa aus den Anden oder Garnelen aus Südostasien – hinter vielen Trendzutaten stecken Monokulturen, Wasserknappheit und schlechte Arbeitsbedingungen. Globalisierung bringt nicht nur neue Geschmäcker, sondern auch neue Ungleichheiten. Essen ist politisch. Und wer isst, entscheidet auch, welches System er unterstützt.
Der Film ist vorbei. Es gibt langen Applaus, die Lichter gehen an. Der Mann applaudiert mit, denn erhebt er sich langsam, dreht sich zu mir und lächelt stolz. Ich frage ihn nach dem Baguette aus dem Film. Mit einem schönen polnischen Akzent erklärt er: „Das Sandwich heißt Zapiekanka. Sie müssen es probieren. Suchen Sie sich ein Rezept.“ Während er in der Menge verschwindet, denke ich noch einmal an sein Seufzen und daran, was Essen für Menschen bedeuten kann. Und jetzt? Jetzt muss ich dringend nach dem Rezept suchen.
Wenn du mehr über das Thema Migration und Essen hören willst, dann schau dir bitte auch meinen Podcast Schnitzel & Stories an, Die zweite Season beschäftigt sich ausschließlich mit diesem Thema!
Quellen:
Currywurst und britisches Curry Pulver
https://www.nytimes.com/2011/01/27/world/europe/27berlin.html
Kartoffel, Spargel, grüne Bohnen in Deutschland
https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/lebensmittel/spargel/index.html
https://www.ardalpha.de/wissen/gesundheit/ernaehrung/kartoffel-geschichte-europa-100.html
https://www.pflanzenforschung.de/de/pflanzenwissen/journal/die-wiege-der-gartenbohne-1670
Vietnamese Vertragsarbeiter in der DDR
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/548449/vertragsarbeiterinnen-in-der-ddr
Japanische Gemeinschaft in Düsseldorf
https://www.duesseldorf.de/internationales/partnerschaften/chiba/aktuelles/aktuelles-detailseite/newsdetail/wie-kam-so-viel-japan-nach-duesseldorf
Chifa-Küche in Peru und New York
https://www.theworldofchinese.com/2022/03/introducing-chifa-perus-chinese-culinary-tradition/
Pad Thai als Nationalgericht
https://www.theatlantic.com/international/archive/2014/04/non-thai-origins-of-pad-thai/360751/
Lachs in Sushi und norwegische Exporteure
https://en.seafood.no/news-and-media/news-archive/norway-bringing-salmon-sushi-to-your-bento-box-since-the-1980s
Kimchi Geschichte
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2352618114000043
Fettleibigkeit in Mexiko
https://www.weltagrarbericht.de/aktuelles/nachrichten/en/28316.html#:~:text=Mexiko%20will%20der%20Fettleibigkeit%20mit,kalorienhaltige%20Lebensmittel%20auf%208%20Prozent.
Verdrängung tradtioneller Esskultur durch Golbalisierung
https://www.fao.org/4/y5736e/y5736e00.htm
Ausbeutung in der globalen Lebensmittelindustrie (Avocados, Quinoa, Garnelen)
https://www.boell.de/en/2018/03/09/secos-documantary-about-consequences-failed-water-policy-chile
https://www.bbc.com/news/world-latin-america-45008830
https://suedostasien.net/moeglichst-billig-aber-bitte-mit-guetesiegel/
https://www.edit-magazin.de/index.php/wie-die-lebensmittelindustrie-wasser-verschwendet.html